Dass es diese Ruderwanderfahrt im denkwürdigen Jahr des Ausbruchs der Corona-Pandemie überhaupt geben konnte, war bis knapp vor dem geplanten Starttermin überhaupt nicht absehbar. Weder von Berlin noch von Brandenburg hätten wir gemäß den hier noch geltenden Corona-Restriktionen in diesem Zeitraum ein Mannschaftsboot „ohne Loch“ besetzen und tagelang damit rumschippern dürfen. Also Dank gilt diesmal nicht nur unserem bewährten Abenteuer-Fahrtenleiter Sven und dem Ratzeburger Ruderclub, sondern auch der Landesregierung von Schleswig-Holstein (Ausgangs- und Ankunftsort Ratzeburg), die früher als die politisch Verantwortlichen in Berlin „grünes Licht“ dafür gegeben hat.
Also konnten sozusagen als „last-minute“-Buchung ein Kleinbus gemietet und die zwei benötigten Boote vom RRC, „Elsbeth“ (gesteuerter Vierer) und „Libelle“ (gesteuerter Zweier), auf dem Hänger des Vereins vertäut werden.
Rund 1400 km Fahrt die Nacht hindurch von Ratzeburg nach Arzal bis an die französische Atlantikküste wollten erstmal als unvermeidlicher Auftakt für dieses Unternehmen bewältigt werden. Von dort sollte es quer durch die Bretagne gehen: auf der Binnenschifffahrtsverbindung von Süden nach Norden. Natürlich hatten wir auch Glück, dass die Grenzen auf unserer Transitstrecke über Holland und Belgien nach Frankreich bereits offen waren und (damals!) keine Reisewarnung mehr für Frankreich galt. Und klar: wohl niemand von uns – Vera, Lothar, Peter (Pjotr/Pierre), Sven vom Ratzeburger Ruderclub sowie Heike, Kerstin, Peter und Uschi von der TRG, starteten so unbeschwert wie bei anderen Auslandswanderfahrten zuvor. Aber es war ja absehbar, dass wir eher „unter uns“ bleiben würden, auf dem Wasser, nämlich der Vilaine und dem Canal d’Ille-et-Rance und dass wir, aller Voraussicht nach, „wild“ zelten würden, mit Selbstversorgung. Eine „Lebensgemeinschaft auf Zeit“.
Der Küstenfluss Vilaine? Der Canal d’Ille-et-Rance? Beide Wasserstraßen waren eher große Unbekannte für die meisten von uns.
Was erwartete uns auf der geplanten Tour von der Mündung der Vilaine in den atlantischen Ozean (Golf von Morbihan) bis Rennes und von dort weiter über den Ille-Rance-Kanal möglichst bis zur Hafen- und Festungsstadt St. Malo im Ärmelkanal? „Vilaine“ heißt auf Deutsch: böse, schlimm. Nachgeschlagen nach der Tour! Also konnte die Wanderfahrt unvoreingenommen ihren Lauf nehmen.

Die Bezeichnung dürfte eine Anspielung auf die Hochwassergefahr sein, was uns später auf denkwürdigen Pegelmarkierungen angezeigt wurde. Daher war dies auch der erste Fluss Frankreichs, der vor fast 500 Jahren mit 14 Schleusungen auf einer Strecke von 131 Kilometern schiffbar gemacht wurde. Die Berufsschifffahrt spielt hier längst keine Rolle mehr. Also wurden auch die Schleusen nicht heutigen Standards entsprechend umgebaut.
Angedacht waren rudernd 131 Kilometer auf der Vilaine und 85 km auf dem Ille-Rance-Kanal, der kurz hinter Rennes Richtung Ärmelkanal abzweigt. Bis zum Meer im Süden würden tideabhängig auf der Vilaine noch 7 km und im Norden 20 km bis St. Malo auf dem Kanal dazukommen. Die eigentliche Herausforderung sollte indes die über 50 Schleusen sein: mehr oder weniger stillsitzend zu bewältigen. Dies vorweg: eine übermäßige Kraftanstrengung für sämtliche Hinterteile, da es zwischendurch auf der gesamten Route kaum Anlegemöglichkeiten gab. Was alsbald Diskussionen über becken- und gendergerechte Rollsitze aufkommen ließen – oder auch die Neueinführung einer Steh-Ruder-Disziplin. Am Ende hatten wir „nur“ 45 Schleusungen und 176 Ruderkilometer hinter uns und waren reif für einen Yoga-Grundkurs.
Das Ziel unserer Hinfahrt, Arzal, erreichten wir am Nachmittag, Samstag, 11. Juli, bei strahlendem Sonnenschein. Arzal besteht eigentlich nur aus einem großen Jachthafen, einem „Nautischem Zentrum“ an den Ufern der Vilaine, die wenige Kilometer weiter in den Atlantik mündet. Er ist einer der größten Süßwasserhäfen an der Atlantikküste. Geschützt vor den Gezeiten durch einen Staudamm. Eine Schleuse ermöglicht die Durchfahrt von Schiffen über die Nord-Süd-Achse der Bretagne. Alsbald wurde entschieden, auf die kurze Fahrt aufs offene Meer zu verzichten und unsere Boote so zu „parken“, dass wir uns am nächsten Morgen, ohne Zeit durch Schleusung zu verlieren, sogleich auf den Weg Vilaine-aufwärts Richtung Redon machen konnten. Entsprechend wurde der Platz fürs erste Nachtlager gesucht: eine Wiese nahe am Hafen und gleich am Wasser. Köstlich das erfrischende Bad nach langer ermüdender Fahrt. Für die nächste Einkaufsmöglichkeit fürs Abendessen musste eine kleine Abordnung noch einmal ins Auto steigen und rund 10 Kilometer bis in den nächsten Ort, nach La Roche Bernard, fahren.

Einige nächtigten in ihren Schlafsäcken (mehr oder weniger durchfroren) unter freiem, sternenübersätem Himmel auf dem „Deck“ von Übungskatamaranen einer nahegelegenen Segelschule. Die aber aufgrund von Corona geschlossen war. Da kein Landdienst vorgesehen war, mussten Bus samt Anhänger und PKW (2 aus Berlin) landeinwärts in Ziel Nähe gebracht werden, da wir von nun an nur noch zu Wasser und mit Zelt- und Küchenausrüstung unterwegs sein würden.
Von Arzal bis Rennes sind die ersten 80 Kilometer schleusenfrei. Dann müssen 12 Schleusen passiert werden, um bis Rennes auf 38 Meter über dem Meeresspiegel zu gelangen. Bis zu unserem ersten Etappenziel auf dem Wasser, 36 Kilometer bis Redon, ist die eher geradlinig dahinfließende Vilaine noch recht breit, geschätzte 100 – 150 Meter. Landschaft zieht als grünes Buschwerk, Wiesen- und Weidenband an den licht bewachsenen aber unzugänglichen Ufern vorbei ohne vom Menschen gesetzte, sich ins Gedächtnis gravierende Akzente. Noch ist der Blick immer wieder mal frei auf das weite, wenig besiedelte Hinterland. Der Himmel wolkenverhangen. Böiger Gegenwind und das Rudern gegen die Strömung ließ uns abends nach 36 Kilometern erschöpft auf dem Campingplatz von Redon anlanden. Einkehrmöglichkeiten waren so weit entfernt, dass wir – leicht missmutig – auf unseren mitgeführten Proviant zurückgreifen mussten.

verändert sich das Bild. Fast durchgehend zieht sich beidseits des Flusses ein schön angelegter Treidelweg entlang, der „Chemin de Halange“, viel genutzt von Radlern, Joggern, Wanderern. Das Bett der Vilaine beginnt sich zu verengen, der Fluss schlängelt sich in sanften Mäandern durch unberührt scheinenden Laubwald. Die Steuerleute müssen Acht geben auf den durch Bojen markierten Gefahrenbereich, was zuweilen große Bögen ums Steuerbordufer erforderlich macht: entweder ist das Wasser zu flach oder es könnten noch Felsen nahe der Oberfläche anstehen. Etappenweise ragen Felswände vom Treidelpfad hoch hinauf. Ein einladender Steg kommt in Sicht, in Béganne. Hangaufwärts ein Strandcafé, ein schöner kommunaler Rastplatz, Toiletten! Es ist wieder heiß heute. Die Mannschaft jubelt, gönnt sich ein Picknick unter Schatten spendenden Bäumen. Zum Verweilen ist es noch zu früh, die anvisierte Tagesetappe noch nicht erreicht. Die ersten Schleusen werden passiert. Klein und schmal, so dass gerade mal unsere beiden Boote hintereinander anlegen können.

Mal mehr, mal weniger aufmerksam regulieren sie mit Blick auf die Anlegeseite der Boote den zuweilen durchaus heftigen Strömungszulauf ins Becken. Leitern zum Festhalten gibt’s nicht. Dies geschieht hier ausnahmslos mit Seilen, die oben um Poller geschlungen werden. Mal sind es unsere eigenen, mal sind es fest installierte glitschig schmuddelige, algendurchweichte Taue, die uns hinuntergereicht werden.
Der 14. Juli naht, der französische Nationalfeiertag. Wir erhoffen uns abends an Land ausgelassene Feierlichkeiten, Straßenfeste und Verköstigung mit regionalen Produkten, müssen aber ohnehin noch einmal einkaufen für die „Selbstversorgervollpension“. Zumindest müssen die Trinkwasservorräte aufgefrischt und der Müll entsorgt werden. Guipry, ein hübsches, einladendes Städtchen, bietet sich dafür und für eine kleine Cafépause an, aber die Zeit drängt. Und mehr als eben dieser „Ausflug“ in einen Supermarkt, ein Gang aufs öffentliche WC und eine Kirchenbesichtigung im Eiltempo ist uns nicht vergönnt. Abends landen wir an einem Wehr mit einer beeindruckenden alten Wassermühle, der Moulin de la Courbe.


Gailieu heißt der Ort. Eine freundliche Schleusenwärterin gestattet uns, unsere Zelte auf dem Schleusengelände aufzuschlagen und einen Trinkwasserhahn an ihrem Haus zu nutzen. Am Uferweg entdecken wir Plaketten mit Anzeigen von Jahreszahlen und Hochwasserpegelständen. Fast immer im Winter trat hier die Vilaine über die Ufer, bis zu 3 Meter.
Erstmalig können und wollen wir die Gelegenheit wahrnehmen, ein Restaurant aufzusuchen und uns bekochen zu lassen. Immerhin ist Nationalfeiertag. Aber der Ort ist wie ausgestorben. Man jubelt wohl anderweitig. Die Restaurants sind geschlossen. Bis auf eine Creperie. Immerhin genießen alle das bretonische Nationalgericht Galettes (Buchweizenpfannkuchen mit diversem Belag) und dazu das bretonische Nationalgetränk Cidre.
Am nächsten Tag beginnt der erwartete Schleusenmarathon. Allein bis Rennes sind 12 Schleusen auf einer Strecke von 50 km zu passieren. Rennes, die Hauptstadt der Bretagne, hinterlässt bei der Durchfahrt bis zum Abzweig der Vilaine in den Ille-Rance-Kanal keinen bleibenden Eindruck. Wohl aber die Stadtschleuse und die muffige Schleusenwärterin. Es gibt weder Seile noch, wegen der Beckenhöhe, die Möglichkeit, von den Booten jeweils eines von uns nach oben zu katapultieren. Das Wasser wird über eine überdimensionale Wanne full speed ins metertiefe Becken gekippt. Unsere Boote tänzeln mitsamt ihren grimmigen Insassen auf der hereinbrechenden Flut. Bis zum nächsten Etappenziel, der Schleuse St. Grégoire, sind heute noch auf der Vilaine 8 Schleusen und auf der Ille 3 Kanalschleusen zu durchfahren.

Steile felsige Ufer bringen etwas Abwechslung in die sonst von ebenerdigem Wald (Eichen und erste Maronenbäume) dominierte Landschaft. Immer wieder beeindrucken uns die schönen, meist zweigeschossigen Schleusenwärterhäuser, aus massiven Felssteinen erbaut. Einige sind bewohnt, andere nicht, aber alle Anwesen werden offenbar gepflegt. Wohl eher als Augenweide für die zu Land sich fortbewegenden Touristen auf dem Treidelpfad. Ruderboote haben wir kein einziges zu Gesicht bekommen. Nur vergleichsweise wenige Paddler waren auf der gesamten Tour unterwegs. Ein einziges Motorboot (das defekt in einer Schleuse liegenblieb!) Und so waren vor allem die Schleusungen mit unseren Booten eine große, selten dargebotene Attraktion für die Zuschauer.
Die Besonderheit auf dem Ille-Rance-Kanal war die Bewältigung des Höhenunterschiedes. Die ersten 20 Schleusungen erfolgten aufwärts, 25 Höhenmeter.

Dann hieß es ca. 8 km auf dem Scheitel des Kanals weiter zu rudern, erstmal lange geradeaus, dann leicht mäandernd, dann, ab der Schleuse La Ségerie, wurde abwärts geschleust, 63 Höhenmeter dem Flüsschen Rance folgend.




Am Campingplatz Tinténiac, am Freitag, dem 17. Juli, endete unsere Ruderwanderfahrt. Es war für alle einsichtig, dass die Zeit zu kurz war, um bis Dinan bzw. bis zur 48. Kanalschleuse und danach noch 3 km aufs offene Meer bis zur Hafenschleuse St. Malo zu rudern. Auf dem Campingplatz Tinténiac war denn auch der Hänger geparkt worden, im Ortszentrum der Bus. Draußen am Rand des Marktplatzes genossen wir abends die letzten Gläser Cidre und ein hervorragendes Muschelessen. Morgens wurden die Zelte abgebrochen, die Boote verladen und also steuerten wir die sich hoch über dem Rancetal erhebende Stadt Dinan mit Motorkraft an. Immerhin blieb ein wenig Zeit für eine kleine Stadterkundung: einen Rundgang über die mittelalterliche Stadtmauer, mit Blick auf die von Engländern erbaute Festung, und steil hinunter zum Hafen. Über schmale, von alten Fachwerkhäusern mit prächtigen Holzfassaden und ausladenden Erkern gesäumten Straßen. Ein wenig wehmütig folgten unsere Blicke der Richtung Meer fließenden Rance. Dort entlang zu rudern hätte uns sehr gefallen. So war es halt ein schöner, touristischer Abschluss „in Zivil“, bevor wir uns am Samstagnachmittag wieder Richtung Küste über die Normandie auf die lange unerquickliche Rückfahrt durch die Nacht nach Ratzeburg aufmachten.
Uschi Rü.